#implantfiles – Angst vor Insulinpumpen als Geschäft

Die Süddeutsche Zeitung ist ein renommiertes Presseorgan in Deutschland. In gewisser Weise halten sie das Fähnchen des klassischen Journalismus hoch und investieren noch in investigative Stories. Die aktuelle Enthüllung läuft unter #implantfiles und fokussiert mehrere Medizinprodukthersteller. Deren Produkte sollen Menschen geschadet haben, anstatt ihnen zu helfen. Es ist richtig und wichtig, dass sich Journalistinnen und Journalisten solchen Themen widmen. Schnell rannten jedoch auch andere Pressevertreter dem Stein hinterher, den die Süddeutsche Zeitung ins Rollen gebracht hatte. Im Zuge der Berichterstattung ist etwas passiert, das für viel Aufregung in der Diabetes-Community gesorgt hat. Medtronic rückte besonders in den Fokus der zahlreichen Artikel und bald verbreitete sich über die sozialen Medien die Meldung einer fehlerhaften Insulinpumpe. Hitzige Diskussionen folgten. Angst brach aus. Aber nicht bei mir. Warum? Das versuche ich nun zu skizzieren.

Die Enthüllung, der Skandal

Als ich den sachlichen und umfassend recherchierten Artikel in der Süddeutschen Zeitung zu den #implantfiles las, saß ich noch mit dem ersten Kaffee des Tages im Bett. Ich sog die Fakten auf, hinterfragte einige Aussagen. Natürlich sah ich einiges anders oder verstand, dass man dort etwas verkaufen wollte – aber nicht durch Fehlinformationen. Ich kam zu dem Schluss, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung dort tatsächlich wichtige Verbindungen zwischen bekannten Fällen von fehlerhaften Medizinprodukten gezogen hatten.

Das Beispiel mit dem jungen Diabetiker und der Fehlfunktion einer Insulinpumpe bereitete mir jedoch schon beim ersten Lesen Bauchschmerzen. Ich ahnte, was man daraus machen und welch hitzige Diskussionen in der Community folgen würden. Es dauerte auch keine 30 Minuten, bis ich das erste Facebook-Posting sah. Aber zunächst zu dem, was in der Süddeutschen Zeitung stand und was in anderen Medien folgte.

Der Ursprung der Nachricht

In der Fallübersicht der Süddeutschen Zeitung steht:

„Am Vormittag des 14. Juni 2018 saß Max in der Schule, als er sich plötzlich seltsam fühlte. „Ich kann das nicht beschreiben“, erzählt er. Sein Blutzuckerspiegel war ins Bodenlose gefallen, offenbar war über seine Pumpe viel zu viel Insulin in den Körper gelangt. Wenn der Blutzuckerspiegel zu stark sinkt, kann ein Mensch ins Koma fallen und sterben. Seine Klasse fütterte Max mit Süßigkeiten. Er hat Glück gehabt.“

(Onlineportal der Süddeutschen Zeitung, https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/politik/implant-files-decken-misstaende-bei-medizinprodukten-auf-e198546/?autologin=true – zuletzt abgerufen am 28.11.2018, 19.30 Uhr)

In einem Artikel mit mehreren Betroffenen finden sich genauere Informationen:

„Maximilian Crusius, 10, Insulinpumpe

„Seit ich drei Jahre alt war, trage ich eine Insulinpumpe. Meine Pumpe ist so groß wie ein Portemonnaie und gibt automatisch Insulin in meinen Körper ab. Ganz allein kann die Pumpe meinen Zuckerhaushalt aber nicht kontrollieren. Wenn ich zum Beispiel Sport mache oder etwas esse, muss ich mir zusätzlich selbst Insulin geben. Ich rufe dann von der Schule aus meine Mutter an, und sie berechnet für mich den Wert, den ich in das Gerät eingeben muss, wenn ich zum Beispiel zu Mittag ein Schnitzel mit Kartoffeln esse. Je nachdem, wie groß die Dosis ist, tut es manchmal weh, an der Stelle, wo der Katheter in meinen Körper läuft, aber ich finde die Pumpe trotzdem praktisch. Was ich nicht so gut finde, ist, dass es immer wieder zu Problemen kommt. Zum Beispiel vor ein paar Monaten, als neues Insulin in die Pumpe nachgefüllt werden musste. Meine Mama hat erfahren, dass es beim Wechseln der Ampulle zu einem Überdruck hätte kommen können. Dabei hätte es passieren können, dass mir die Pumpe wohl zu viel Insulin auf einmal hätte abgeben können. An einer Überdosis Insulin kann man wohl auch sterben. Wir haben die Infusionssets, die wir schon zu Hause hatten, dann nicht mehr verwendet. Das hat mir schon Angst gemacht.“

Medtronic gab im September 2017 eine dringende Sicherheitsmeldung zu den Infusionssets heraus, die Max für seine Pumpe braucht. Das Unternehmen rief die Sets freiwillig zurück, nach, wie es schreibt: „aktuellen Berichten einer möglichen Über-Verabreichung von Insulin“.

(Onlineportal der Süddeutschen Zeitung, https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/politik/implant-files-ein-leben-mit-fehlerhaften-implantaten-e787654/ – zuletzt abgerufen am 28.11.2018, 19.30 Uhr)

(c) Saskia Kaup @diafeelings.com

Trittbrettfahrer nutzen Angst als harte Währung

Über den Tag hinweg verfolgte ich die vielen Berichte. Immer mehr Medien sprangen auf den Zug auf. Natürlich mussten neue Stories und Beispiele her. Andere Onlineportale nahmen den Bericht der Süddeutschen Zeitung und bauschten die Nachricht weiter auf. Ich kann nicht rekonstruieren, welches Onlineportal als erstes schrieb, dass es 10 Einheiten Insulin gewesen sein sollen, die der Junge unbeabsichtigt gespritzt bekommen haben soll. Im ursprünglichen Bericht wird im ersten Teil eine Unterzuckerung geschildert und in zweiten die fehlerhaften Reservoirs erwähnt. Beides steht erst einmal nicht im Zusammenhang. Man denkt sich nur seinen Teil als Leser.

Mehr Drama!

In einem Artikel war dann die Rede davon, dass er hätte sterben können. Dramatik! Ein Kind in Gefahr! Das zieht bei den Lesern. Ich sah vor meinem geistigen Auge Journalistinnen und Journalisten, die voreilig eine Story zusammengeschrieben haben, um sich an die Enthüllungsstory der Süddeutschen Zeitung schnellstmöglich dranzuhängen. Eine gute Gegenrecherche fehlte. Die differenzierte Beschäftigung mit dem Thema hätte schnell hervorbringen können, dass 10 Einheiten für ein Kind eine zwar große Menge an Insulin ist, aber gut händelbar – wie es der Junge auch selber in der Süddeutschen Zeitung beschreibt. Gut geschulte Diabetiker und Fachpersonal wissen zudem, was die Gegenregulation der Leber bei Unterzuckerungen auffangen kann.

Auch Medien wollen ihr Produkt verkaufen

In dem ursprünglichen Artikel wird der Junge zitiert und es steht nur, dass man an einer Überdosis Insulin auch sterben könne. Nicht mehr, nicht weniger. Es ist wage und offen formuliert. Keine zu genauen Fakten, keine Spekulation. Und nur der angedeutete Hauch von Dramatik. Aber auch Medien, die offensichtlich ihre Artikel schon vorab geschrieben haben, wählten eine dramatischere Schilderung von Max‘ Fall. Hier ist die Tagesschau ein Beispiel. Man sieht, dass der Artikel (hier zu finden) fast zur selben Zeit wie die Artikel der Süddeutschen Zeitung online ging. Hier wird viel konkreter auf diesen Einzelfall eingegangen. Aber einige Sachen lösten bei mir verwundern aus.

Kritisch hinterfragen, Logikfehler finden!

Es gilt für jede Information, die man erhält: Durchatmen und erst einmal fragen, kann das überhaupt sein? Man sollte sich immer mehrere Quellen suchen und anschauen. Aber sich unreflektiert der Panik von Nachrichten anzuschließen, macht einen selbst nur unnötigen Stress. Bei der Vielzahl von Medien ist es schwer den Überblick zu behalten. Wie bei der Tagesschau kann schon mal ein Blick auf den Veröffentlichungszeitpunkt und die Einordnung in das gesamte Geschehen ein Punkt sein, den man sich anschauen kann. Es lohnt sich den Ursprung einer Meldung zu suchen. Wer hat es als erstes veröffentlicht? In diesem Fall kommt man schnell auf die Süddeutsche Zeitung, die konkret auf fehlerhafte Reservoirs verwies, die Grund für eine falsche Dosierung gewesen sein können. Bei schlechteren Artikeln verschwimmt dies oder es wird sogar gesagt, dass die Pumpe selbstständig einen Bolus abgegeben hat. Hier gäbe es jedoch einige technische Hürden, wie die Nutzer der betreffenden Pumpe wissen. Das passt nicht so ganz. Die logishe Erklärung mit den Reservoirs wird von der Tagesschau gar nicht mehr aufgegriffen.

Gibt es Widersprüche?

Neben den Logikfragen, kann man kritisch darauf schauen, wer in einem Artikel zu Wort kommt und wann das genau passiert. O-Töne, also Zitate, benötigen immer einen Vorlauf. Leider gibt es auch Portale, die sich nicht scheuen erfundene Zitate zu posten. Die Tagesschau gehört definitiv nicht zu den schwarzen Schafen. Mir ist aber sehr stark aufgefallen, dass die Inhalte der Zitate von Max sich im Bericht der Tagesschau sehr stark von den Schilderungen im Artikell der Süddeutschen Zeitung unterscheiden. der Artikel ist aber ebenfalls montagsmorgens online geangen. Also gab es vorab ein Interview mit der Familie. Auch hier höre ich meine Alarmglocken sehr deutlich. Widersprüche sind ein deutliches Warnsignal. Ob die Fehler nun bei den Verfassern liegen oder bei den Interviewten, kann man nicht sagen. Spekulationen sollten aber immer vermieden werden.

Das harte Urteil der Community

Im Grunde hat die Community bei Facebook schon die richtigen Gegenfragen im Fall Maximilian gestellt: Warum war keine Obergrenze für die Bolusabgabe festgelegt? Kann ein Bedienungsfehler vorliegen? Die Fragen kommen auf, wenn man den Artikeln folgt, die behaupten, dass es eine nicht „genehmigte“ Insulinabgabe der Pumpe gab. Viele stürzten sich auf eben genau die dramatisch überspitzen Sätze in Artikeln, die ich hier versuche zu entzerren. Es sind eben jene Sätze, die formuliert wurden, um eine Nachricht zu verkaufen und von einem sachlichen Ton abweichen. So erreichen die Verfasser genau das, was sie wollen: die Artikel werden gelesen, gepostet, diskutiert.

Maximilian und seine Mutter haben etwas erlebt, dass sie beunruhigt hat. Es gab fehlerhafte Reservoirs. Medtronic hat diese sofort zurückgerufen, um die Gefahr für die Patientinnen und Patienten zu minimieren. Die meisten Details bleiben uns jedoch verborgen. Es ist nicht Aufgabe der Community zu richten, wie es bei Facebook passiert ist. Mutter und Sohn wurden teilweise sehr harsch angegriffen. Medien sind dazu verpflichtet objektiv zu sein, Menschen jedoch nicht. Das gilt auch für Max und seine Mutter. Sie erzählen ihre subjektiv erlebte Geschichte. Hier müssen die Berichterstatter die subjektive Erzählung nehmen und objektiv aufarbeiten. Das ist meiner Meinung nach in dem Fall bei vielen Artikeln nicht passiert.

Risiko und Realität

Nichts ist fehlerfrei! Weder eine Insulinpumpe, noch der Mensch, der sie bedient. Und auch die Journalistinnen und Journalisten, die den Bericht der defekten Insulinpumpe aufgegriffen haben, sind nicht fehlerfrei. Jedes Medizinprodukt hat Fehlerquellen. Hier behelfen wir uns statistischer Grenzen. Gibt es einen Fehler einmal bei 1000 Produkten, so ist das okay für die Verantwortlichen. 999 Personen konnte geholfen werden. Schwierig wird es, wenn man dann plötzlich den einen Menschen sieht, bei dem etwas schief gegangen ist. Dann fühlen wir mit, dann ist der Mensch keine Statistik mehr. Genau das macht die Enthüllungsstory #implantfiles gerade. Und es gibt Beispiele (wie den Fall der defekten künstlichen Bandscheibe), bei denen es gerechtfertigt ist. Hier ist es nicht nur eine Person aus 1000. Viel mehr Menschen sind betroffen und selbst als Probleme bekannt wurden, dauerte es noch lange, bis das Produkt vom Markt genommen wurde.

Risiko und Realität müssen mit dem Nutzen abgewogen werden. Das ist eine schwierige Entscheidung und Menschenleben auf Zahlen zu reduzieren ist moralisch diskutabel. Aber welche Möglichkeiten haben wir sonst? Und wollen wir überhaupt alle Risiken wissen? Menschen, die sich den Beipackzettel von Aspirin durchlesen, halten wir doch eher für neurotisch. Da wissen wir, dass es Nebenwirkungen gibt, diese aber so selten sind, dass der Nutzen siegt.

Schneller Fortschritt vs. absolute Sicherheit

Wir beschweren uns, dass der Fortschritt nicht schnell genug voran geht, fordern nach immer besseren mitteln. Es gibt sogar Lager, die glauben, dass die Konzerne und Produkte oder Heilmittel aus Profitgier vorenthalten. Geht etwas schief, haben die Unternehmen dann aber zu schnell aus Profitgier gehandelt. Das ist tatsächlich ein Balanceakt, der dort entsteht. Ich gehöre zu dem Lager, dass stets sagt, lieber Vorsicht als Nachsicht, alles genau prüfen und lieber warten, bevor man mehr Schaden anrichtet als nutzen. Aber ich würde einem Unternehmen niemals vorwerfen, dass es eben als das, was es ist agiert: als wirtschaftliches Konstrukt zur Geldgewinnung. Deswegen stehen wir ja auch morgens auf und gehen arbeiten. Geld verdienen wollen ist erst einmal nicht verwerflich. Auch Skandale zu vermeiden ist ein normales Prozedere, von dem sich niemand freisprechen kann. Ob hier systematisch und zu Lasten von Menschen Fälle fehlerhafter Medizinprodukte vertuscht wurden, kann ich nicht sagen. Das werden die folgenden Wochen zeigen. Wenn es so ist, verurteile ich dies genauso und verlange nach einer ebenso systematischen Aufklärung.

Quellen:

https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/politik/implant-files-decken-misstaende-bei-medizinprodukten-auf-e198546/?autologin=true

https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/politik/implant-files-ein-leben-mit-fehlerhaften-implantaten-e787654/

https://www.tagesschau.de/inland/implantfiles/implantfiles-113.html


6 responses

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  1. Vielen Dank für dieses wunderbare Beispiel für Medienkompetenz!
    Die meisten Menschen verbringen mehr Zeit in den Medien als im realen Leben. Kompetent sind die wenigsten in diesem Bereich!
    Danke dass du dir die Zeit für diesen ausführlichen Blog genommen hast!

  2. Schade wenn wir die von uns in den letzten Jahren gewonnenen Freiheiten und Möglichkeiten in der Behandlung unseres Diabetes verlieren wenn solch reißerischen Berichte der Medien die Runde machen. Ich will nicht mehr ohne meinen Closed Loop leben, denn dadurch habe ich wieder soviel Freiheit und Lebensqualität gewonnen ohne die ich mir das Leben mittlerweile sehr schwer vorstellen könnte.

    1. Danke fürs Kommentieren!
      So viel Macht werden die Pressevertreter, die sich hier zur Polemik verleiten ließen, ja zum Glück auch nicht. Kein technisches Gerät ist fehlerfrei und Insulinpumpen beweisen jeden Tag, dass sie unzähligen Menschen helfen.