„Nicht einstellbarer Diabetes“? Wirklich?

Gibt es wirklich einen nicht einstellbaren Diabetes? Nein, den gibt es nicht! Es gibt aber Menschen mit Diabetes, die nicht einstellbar sind. Es besteht ein sehr feiner, aber wichtiger Unterschied zwischen einem nicht einstellbaren Diabetes und einem nicht einstellbaren Menschen mit Diabetes. Dieser Unterschied wird zu selten gemacht und sorgt meiner Meinung nach dafür, dass Behandlungsfehler provoziert werden und Schäden entstehen, die vermeidbar wären. Daher möchte ich für diesen wichtigen Unterschied ein Bewusstsein schaffen.

Wieder nur ein Mythos

Immer wieder begegnen mir Menschen mit Diabetes, die mir erzählen, dass ihr Diabetes nicht einstellbar sei. Manche Schicksale gehen mir wirklich nahe. Ich habe dazu viele Gedanken und eine klare Meinung: Kapituliert nicht, ignoriert den Mythos, nehmt es nicht hin „nicht einstellbar“ zu sein und laßt eure Ärztinnen und Ärzte mal um die Ecke denken! Doch wie schafft man das? Und warum lehne ich mich soweit aus dem Fenster und sage, dass es den „nicht einstellbaren“ Diabetes nicht gibt?

Der nicht einstellbare Diabetes

Es gibt ohne Frage viele Faktoren, die unseren Blutzucker beeinflussen und die wir nicht von außen kontrollieren können. Stress, andere Hormone, die alltäglichen Kämpfe des Immunsystems gegen Eindringlinge oder Fehlschätzungen. Dem gegenüber stehen aber physiologische Muster, die man sehr gut ermitteln kann. Unterm Strich kann man immer so viele Daten sammeln und Strukturen ermitteln, dass man jeden Diabetes einstellen kann – an manchen Tagen besser, an anderen schlechter, aber immer ausreichend! Der „nicht einstellbare Diabetes“ ist meiner Meinung nach ein mythisches Wesen, was schnell aus der Kiste gelassen wird, wenn die Einstellung komplizierter ist oder nicht genug Wissen vorhanden ist.

Ja, mit dieser Aussage lehne ich mich weit aus dem Fenster und ich befürchte, dass sich dadurch auch einige angegriffen fühlen. Aber das ist nicht meine Absicht und ich entschuldige mich auch dafür, wenn es bei jemandem so ankommt. Lest weiter, ihr werdet sehen, dass ich auf ein Problem Aufmerksam machen möchte, dass durch die Aussage „nicht einstellbarer Diabetes“ entsteht und gegen das man meiner Meinung nach angehen sollte.

Wenn man an der Einstellung verzweifelt

Viele Menschen mit Diabetes machen unglaublich viel und dennoch springen die Werte hin und her. Verzweiflung macht sich mit der Zeit breit. Der vermeintlich „nicht einstellbare Diabetes“ schlägt auch auf die Psyche und man gerät in eine Abwärtsspirale, die nicht gerade dabei hilft den Diabetes in den Griff zu bekommen. Es wird für den betroffenen Menschen immer schwieriger mit den hohen Werten oder den Unterzuckerungen klar zu kommen. Diese Verweiflung kann sogar weitere Erkrankungen provozieren. Damit meine ich nicht nur die Folgeerkrankungen durch den Diabetes, sondern Depressionen, Angststörungen und andere nicht sichtbare, aber ebenso ernste Krankheiten. Oftmals werden die Patientinnen und Patienten dann in ihrer Verzweiflung allein gelassen. Das möchte ich an dieser Stelle mit dem drastischen Wort Fahrlässigkeit versehen. Das macht den Stempel „nicht einstellbarer Diabetes“ zu einem gefährlichen Stigma in der Behandlung unserer chronischen Stoffwechseltörung.

(Foto: KTM)

Meine eingene Verzweiflung

Als ich kurz vor meinem 13. Geburtstag die Diagnose Diabetes Typ 2 erhielt, kam ich genau in diese Abwärtspirale hinein. Ich wurde viele Jahre lang falsch behandelt, weil ich schon bei der Diagnose Übergewicht hatte und niemand genauer hinschaute. Eigentlich hatte ich Typ 1. Jahrelang habe ich mir also Mühe gegeben und geriet selbst in den Strudel der Verzweiflung. Meine Manifestation verlief nicht nach Lehrbuch. Keiner stellte die entscheidenden Fragen. Erst die Fehldiagnose und dann meine eigene Kapitulation, weil ich ja machen konnte, was ich wollte und nichts meine Werte verbesserte, brachten mich in Lebensgefahr. Ich trug den Stempel „nicht einstellbarer Typ 2 Diabetes“ durch angebliche Undiszipliniertheit. Mir wurde unterstellt, dass ich meine Ernährungstagebücher fälschte, Medikamente heimlich nicht nahm und vieles mehr. Das schlug auf meine Psyche und irgendwann wurde mir alles egal. Als ich 2008 zu einem neuen Arzt ging, stellte dieser endlich die richtigen Fragen und setzte Puzzleteile zusammen (die Geschichte meiner Fehldiagnose findet ihr hier). Das änderte nicht nur mein Leben, es rette mir dasselbe.

Man fragt die ganze Zeit nach der Farbe Blau, aber die Antwort lautet Hochhaus und versteckt sich in der Blume

Was soll dieser sinnfreie Satz? Er spiegelt genau das wieder, was ich bei manchen Behandlungsberichten von Menschen mit Diabetes denke: sinnfrei! Ärztinnen und Ärzte haben ihr Vorgehen bei Behandlungen von Erkrankungen. Diese Schemata sind notwendig, um gezielt und effizient arbeiten und behandeln zu können. Gegen dieses System ist nichts einzuwenden. Es passt auf einen Großteil der Patientinnen und Patienten. Diese Effizienz benötigen wir im medizinischen Alltag, sie ist auch nicht falsch und keinem medizinischen Personal vorzuwerfen. Diese Menschen leisten unfassbar viel in unserem Gesundheitssystem und die Schemata machen es erst möglich alles zu stämmen.

Aber hier und da gibt es eben Menschen und Situationen, die nicht in das Lehrbuch hineinpassen. Es wäre die Aufgabe des medizinischen Personals die Behandlung und die Fragen dazu weiter zu fassen, wenn das Schema F nicht passt. Das machen die meisten, aber einige dann eben nicht weit genug. Sie schauen auf den Diabetes, nicht auf den Menschen mit Diabetes. Bei einer so komplexen Erkrankung mit so vielen individuellen Faktoren ist das ein Fehler.

Nicht Diabetes mit Mensch, sondern Mensch mit Diabetes

Diabetes, egal welcher Typ, ist eine allumfassende Erkrankung. Es ist nicht mit einer Pille oder einer Insulininjektion getan. So einfach ist es leider nicht. Es gibt bei jedem Menschen mit Diabetes einen Grund, wenn die Werte nicht in den Griff zu kriegen sind. Unsere Stoffwechselstörung hat Einfluss auf das ganze System Mensch. Und das System Mensch hat ebenso Einfluss auf die Stoffwechselstörung. Das bezieht sich auf die Physiologie wie auch auf die Psyche. Deswegen ist die ganzheitliche Betrachtung des Menschen mit Diabetes meiner Meinung nach unerlässlich.

Nicht Diabetes mit Mensch, sondern Mensch mit Diabetes

Hormon-, Schilddrüsen-, Nieren- oder andere Erkrankungen können sich hinter den Worten „nicht einstellbarer Diabetes“ verstecken. Im schlimmsten Fall verursacht der oder die Behandelnde selbst den „nicht einstellbaren Diabetes“ bei einer Patientin oder einem Patienten (z.B. durch die falsche Insulinwirkdauer, eine häufige Fehlerquelle oder zu viel Druck). Eine ebenso schnelle Diagnose sind psychische Probleme. Ich möchte behaupten, dass das auch immer ein Faktor ist, wenn man den Stempel „nicht einstellbarer Diabetes“ erhalten hat. Wobei zur Diskussion gestellt werden müsste, was zuerst da war: die psychischen Probleme oder der „nicht einstellbare Diabetes“. Denn wie oben schon gesagt, kann diese Verzweiflung über unkontrollierbare Werte auch auf die Psyche schlagen.

Die Fehlerquellen und Erklärungsansätze sind unfassbar vielschichtig und sehr individuell. Daher ist es wichtig, dass man in der Behandlung als Mensch sichtbar ist und ausreichend Vertrauen zu den Behandelnden hat, um ihnen möglichst viel von sich preiszugeben. Je mehr Ärztin oder Arzt von dem Menschen mit Diabetes wissen, um so besser kann sie oder er die Situation einschätzen, bewerten und handeln. Daher hoffe ich, dass diejenigen, die den Stempel „nicht einstellbar“ tragen, nicht den Mut verlieren für sich einzustehen und dafür kämpfen, dass sie als Mensch gesehen werden.

Wenn es die Psyche ist

Die eigene Psyche spielt bei der Einstellung des und auch zum Diabetes eine große Rolle. Jeder kennt es, dass Stress oder Adrenalin den Blutzucker nach oben treiben. Es gibt hier aber noch weit mehr Faktoren. Der Mensch ist ein unterbewusst handelndes Wesen. Manche Mechanismen laufen so automatisch ab, dass wir sie gar nicht mitbekommen. Das ist auch Teil unserer Psyche und kann zu einem Problem in der Behanldung von Diabetes werden. Gerade hier sollten Menschen mit Diabetes offen für diesen Erklärungsansatz bleiben, denn viele psychische Prozesse sind uns auf den ersten Blick nicht bewusst.

Stigma psychische Erkrankung

Ein Beispiel aus meiner Interiew-Reihe bei der Blood-Sugar-Lounge: Hier führte ich im vergangenen Jahr ein Interiew mit Lara (nachzulesen hier). Sie hat Typ 1 Diabetes und Binge-Eating-Disorder. Bei dieser Essstörung haben die Betroffenen unkontrollierbare Essanfälle. Einher geht dies mit einer unglaublichen Scham, Übergewicht und depressiven Stimmungen. Manchmal entgleisten ihre Werte und von außen gab es keinen ersichtlichen Grund. Sie hörte ebenfalls die Worte „nicht einstellbar“. Dass eine weitere Erkrankung diese Einstellung jedoch verhinderte, war zunächst nicht klar. Erst als die Binge-Eating-Disorder diagnostiziert wurde, wandelte sich alles für sie. Hier musste aber erst ein Arzt kommen, in diesem Fall ein Psychiater, der diese Diagnose mit ihr zusammen herausgearbeitet hat. Dieser Weg war lang und schwer für Lara. Psychische Erkrankungen sind immer noch ein großes Stigma in unserer Gesellschaft. Betroffene brauchen oftmals sehr lange, bis sie Hilfe suchen und diese auch bekommen, weil erst eine unfassbar hohe Hürde der Scham überwunden werden muss.

Kommunikation ist der Schlüssel

Daher plädiere ich dafür, dass man kritisch und gleichzeitig offen bleibt. Kritisch, um immer wieder Dinge zu hinterfragen, nicht aufzugeben und die Ärztinnen und Ärzte zu animieren weiter nach den entscheidenen Antworten in Sachen Diabetes zu suchen. Und offen im Bezug auf die Möglichkeit, dass es unterbewusst doch psychische Faktoren gibt. Das ist auch nicht schlimm. Das gehört genauso als Mensch zu uns, wie eben auch der Diabetes zu uns gehört. Der Schlüssel hierzu ist ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zum medizinischen Personal, das einen betreut. Wenn das nicht gegeben ist, sollte man auch den Mut haben zu wechseln. Dieses Vertrauen ist Grundvoraussetzung für eine offene Kommunikation, in welcher der oder die Behandelnde dem Menschen mit Diabetes im Dialog Informationen entlocken kann, die entscheidenden Faktoren für die Einstellung der Patientin oder des Patienten sowie des Diabetes geben kann.

Wissen macht einstellbar

Kein Blogartikel von mir, ohne dass ich nicht auf die mangelhafte Schulungssituation hinweise. Je mehr Wissen man über seine Erkrankung hat, umso besser kann man sie eigenverantworlich meistern. Die Schulungssituation ist meiner Meinung nach Katastrophal. Natürlich ist es ein finanzieller Faktor. Aber ich denke, dass es ein wirtschaftliches Gegengewicht gibt, da fundiertes Wissen zu besseren Werten und somit weniger Folgeerkrankungen führt. Wissen ist die Grundlage für einen gut eingestellten Diabetes und die stärkste Waffe, die ein gut eingestellter Mensch mit Diabetes hat.

Fazit: Sei ein gut eingestellter Mensch mit Diabetes

Sprachlich vereinen sich in dem „gut eingestellten Menschen mit Diabetes“ zwei wichtige Dinge. Zum einen, dass die Werte stimmen und man seinen Alltag mit Diabetes gut meistert. Zum anderen kann es auch so verstanden werden, dass es die positive Einstellung des Menschen meint. Nachweislich haben Akzeptanz und eine positive innere Haltung einen direkten Einfluss auf die Behandlungserfolge. Wer den Diabetes hasst, verteufelt und ablehnt, läuf Gefahr, ein „nicht gut eingestellter Mensch mit Diabetes“ zu sein und das wirkt sich auf die Werte aus. Dies begünstigt dann auch wieder die unterbewussten Handlungen, die sich negativ auf den Blutzucker auswirken. Deswegen ist es so wichtig sich eine positive Sichtweise der Dinge anzutrainieren. Und ja, es ist hartes Training und passiert nicht von heute auf morgen. Aber es lohnt sich dafür zu kämpfen und dem Mythos „nicht einstellbarer Diabetes“ ein Schnippchen zu schlagen.

Was ist Eure Meinung? Wie sind hier Eure Erfahrungen? Gibt es jemanden, der als „nicht einstellbar“ gilt?


6 responses

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  1. Ich. Ich gelte als nicht einstellbar. Hunderte Tests, Krankenhausaufenthalte usw- er ändert sich nahezu tgl. Die Psyche – Angststörung- kam erst vor ein paar Jahren dazu. Über 20 Jahre – seit meinem 9. Lebensjahr, heute bin ich 37- hatte ich nicht den Hauch einer psychischen Erkrankung. Jahrzehnte lange Rückschläge- die Hoffnung ist nun dahin und der Diabetes ist wie eh und je. Nahezu jeder Tag verläuft anderes. Unikliniken, endokrinologie- nichts brachte je auch nur irgendein Ergebnis. Ich wurde sogar auf Tumore untersucht. Viele Untersuchungen und Bemühungen gingen also weit über den Tellerrand und Schema F hinaus. Gebracht hat es nichts.

    1. Das tut mir leid zu hören. Es gibt iele, die eine lange Leidensgeschichte haben und das geht mir auch immer sehr nahe. Vielleicht ist der Artikel von Sandra etwas für Dich. Sie hat gestern mein Thema aufggriffen und eine ganz andere Perspektive dazu: https://sandriabetes.de/?p=638

      Ich wünsche Dir auf jeden Fall alles Gute!

    1. Hallo,
      welchen Punkt genau meinst Du denn?
      So oder so, ist es irgendwie immer toll zu hören, dass man nicht ganz alleine ist 🙂
      LG

  2. Ich bin gerade etwas am Verzweifeln mit meinem Diabetes Typ 1. An dieser Stelle lieben Dank für deinen Beitrag. Es ist sehr wichtig, dass man sich darüber offen austauschen kann. Etwas, dass beim Arztbesuch leider nicht oft der Fall ist, das kann ich aus meiner Erfahrung nur bestätigen.
    Einen „nicht einstellbaren Diabetes“ habe ich nicht diagnostiziert bekommen, aber ich habe Probleme meinen Diabetes — auch vor dem Hintergrund des Menstruationszyklus — richtig einzustellen. Als ich meiner Ärztin davon erzählt habe, wurde ich belächelt und mir wurde unterstellt, dass ich mich einfach nur quer stelle einen Basalratentest zu machen. Für einen Basalratentest braucht man ja relativ stabile Ausgangswerte, die ich selten habe. An der Sache bleibe ich dran, ich versuche immer weiter etwas zu verbessern und erziele auch kleine Erfolge. Aber ich muss sagen, ich bin schockiert, wie wenig Verständnis und Hilfe man von ärtzlicher Seite bekommt. Sicherlich gibt es auch Ausnahmen. Ich habe mich auch entschieden, meine Ärztin zu wechseln.
    Gerade Diabetes und Menstruation sind meiner Erfahrung nach fast ein Tabuthema. Als ich noch die Pille genommen habe, hatte das starke Auswirkungen auf meinen Diabetes. Als ich meinen (anderen) Arzt und meine Gynäkologin darauf angesprochen habe, wurde es verneint. Es muss an etwas anderen liegen, wurde mir gesagt, wahrscheinlich wechsel ich meine Katheter nicht regelmäßig. Ich hatte die Pille dann abgesetzt, was mir und meinem Diabetes sehr guttat. Da ich meine Menstruation nie regelmäßig bekam, konnte ich meinen Diabetes schlecht darauf einstellen. Meine Gynäkologin hatte hier einen Hormontest verweigert und mich belächelt. Dann habe ich ein pflanzliches Präparat gefunden, dass den Zyklus normalisiert. Ich bekomme die Menstruation nun auf den Tag genau und kann meine Blutzuckerwerte besser darauf abstimmen. Aber auch hier gibt es Schwankungen: Mal brauche ich morgens die dreifache Menge an Insulin, mal nicht. Als ich meine Ärztin darauf angesprochen hatte, meinte sie auch mit einem Lächeln, „naja so genau werden sie das nie treffen“. Es macht aber einen Unterschied, ob ich 6 oder 2 Einheiten für ein Brötchen abgebe. Ich habe mir überlegt, in dieser Phase morgens low carb zu essen. Eine fachmännische Unterstützung habe ich aber nie bekommen, eher wurde dem noch entgegengewirkt. Das finde ich alles sehr traurig, aber ich denke, es gibt auch noch viele Möglichkeiten, von denen man vielleicht nichts weiß. Zum Thema Depression kann ich den Tipp geben, mal den Vitamin-D-Spiegel bestimmen zu lassen. Bei Diabetes ist der meist niedriger, was auch zu Niedergeschlagenheit und Schlafproblemen führen kann. Das löst zwar nicht das Grundproblem, ist aber ggf. eine kleine Hilfe 🙂