DBW2018: Die Machtlosigkeit der Typ F‘ler

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Die Themen der Diabetes Blog Woche 2018 liegen mir nicht. Der vierte Tag läuft unter dem Titel „Diabetes-Nebenwirkungen“. Die Blogbeiträge sollen sich um Begleiterscheinungen und -erkrankungen drehen. Dies meint vor allem die psychische Belastung durch Diabetes und die Anfälligkeit für Depressionen oder Angststörungen. Als Typ 1erin kann ich nichts zu diesem Thema beitragen. Aber als Typ F’lerin.

Es gibt eben auch die Angst um einen Diabetiker, von der ich heute berichten möchte. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Beitrag schreiben werde. Ich bevorzuge rationale Themen und eine gute Recherche. Meine Gefühle offen zu legen ist nicht meine Art. Die folgenden Zeilen sind mit viel Schmerz und Angst verbunden. Da hilft mir meine geliebte Wissenschaft herzlich wenig.

Wenn man sich den Diabetes mit der Mutter teilt…

Meine Mutter bekam zwei Jahre nach mir die Diagnose Diabetes Typ 1. Das war 1998 und sie war zu dem Zeitpunkt 38 Jahre alt. Ich werde nie vergessen, wie sie es mir in unserer Küche sagte. Mein erster Gedanke war „Gott sei Dank, jetzt hat sie ihren eigenen und lässt mich damit in Ruhe.“ Ich stehe dazu, dass mir das durch den Kopf schoss. Ich wurde zu dem Zeitpunkt falsch behandelt (mehr dazu hier) und mir ging es immer schlechter. Zudem war die Pubertät voll im Gange und meine Eltern hatten sich in dem Jahr zuvor getrennt. Ich hatte ganz andere Probleme. Meine Mutter sollte den Diabetes nehmen und fertig.

Diabetes war kein Thema

Die folgenden Jahre war Diabetes kaum Thema zwischen meiner Mutter und mir. Das änderte sich, als ich vor 11 Jahren begann mich intensiv um die Erkrankung zu kümmern. Zu dem Zeitpunkt hatte meine Mutter bereits die ersten Anzeichen von Folgeerkrankungen. Ich weiß nicht, wie ihre Werte vor diesem Zeitpunkt waren und wie lange es schon so ging. Ich realisierte, dass meine Mutter zweistellige HbA1c-Werte hatte. Die Gründe und Probleme hierfür kenne ich nicht. Nun haben wir 2018. Meine Mutter hat in beiden Beinen Neuropathie und ständige Entzündungen, besonders in den Gelenken, machen ihr zu schaffen. Zudem hat sie eine diabetische Retinopathie. Wie oft ihre Augen gelasert wurden, kann ich gar nicht mehr sagen. Genauer möchte ich hierauf nicht eingehen.

Machtlosigkeit.

Das Wort, das meine Gefühle als Typ F’lerin beschreibt ist ‚Machtlosigkeit‘. Ich weiß so viel über Medizin, lese und häufe Wissen an. Meinen eigenen Diabetes habe ich im Griff, ich kenne immer das Neuste auf dem Markt. Aber ich bin als Angehörige einer Diabetikerin machtlos. Ich wüsste genau, was meine Mutter machen müsste, welche Geräte ihr helfen könnten. Aber ich kann sie nicht an die Hand nehmen und sie dazu zwingen die Dinge genauso zu machen. Diese Machtlosigkeit verspüren glaube ich viele Typ F’ler, wenn sie sehen, dass sich ein Angehöriger selber schadet – egal auf welche Weise. Aber man steckt nicht in der Haut des anderen. Ich kann nicht nachvollziehen und verstehen, warum meine Mutter so handelt. Ich bin gezwungen zuzusehen. Viele Typ F‘ler wehren sich stark gegen solche Situationen und reden auf den Diabetiker ein. Mach doch mal…. Kannst Du nicht…. Vielleicht wäre es besser… diese Sätze bedeuten alle „Ich liebe Dich und habe Angst Dich zu verlieren!“

So viel Zwang. So viel Verzweiflung.

Zwang. Zwingen. Gezwungen werden. Damit versuche ich manchmal der Machtlosigkeit zu entfliehen. Ich schaue in das Messgerät meiner Mutter und sehe ihre Werte. Das mache ich nicht heimlich. Sie weiß es und ich kommuniziere es direkt. Würde sie es bei mir machen, würde ich sehr wütend werden. Aber was hilft diese Verletzung ihrer Privatsphäre? Denn nichts anderes ist es. Ich versuche so oft es geht zu widerstehen. Es ist die Verzweiflung, die mich hier leitet, denn eigentlich weiß ich, dass es für uns beide nicht gut ist. Man muss respektieren, dass der andere so mit der eigenen Erkrankung verfährt. Man schadet demjenigen eigentlich mehr, wenn man ihn oder sie bedrängt und Druck aufbaut. Ich weiß das, denn auch darüber habe ich viel gelesen. Aber Gefühle scheren sich nicht so sehr um Bücher. Es ist nur schwer auszuhalten, dass man als Typ F’lerin so machtlos ist, und es gelingt mir nicht gut mich so zu verhalten, wie ich es jedem anderen raten würde.

Aus Sorge handeln

Eine Szene ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Vor zwei Jahren besuchte ich mit einer sehr guten Freundin meine Mutter. Wir saßen am Meer und ich merkte, dass es ihr nicht gut ging. Ich überredete – nein, eigentlich zwang ich sie – zu messen. 550mg/dl. Ich wollte sie sofort zu einem Arzt fahren. Da sie das ablehnte und auch die Überprüfung ihrer Pumpe verweigerte, setzte ich mich anders durch. Ich diskutierte, damit ich ihr zumindest die Korrektur mit einem Pen in die Oberarme spritzen durfte. Da stand ich nun. In einem Café auf der Strandpromenade und spritzte meiner Mutter Insulin. Es war pure Verzweiflung von mir, weil ich die Machtlosigkeit in dieser Situation nicht aushielt. Ich wusste mir nicht zu helfen. Ich wollte nur einfach irgendetwas machen und nicht tatenlos bleiben. Unsere Stimmen erhoben wir beide nicht, aber der Ton war doch sehr scharf. Am liebsten hätte ich dort am Meer, wo ich auch meine halbe Kindheit verbracht habe, losgeheult. Auch, weil mir klar war, dass es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Aber ich konnte auch nicht einfach zusehen.

Die Angst, wenn das Telefon klingelt

In den letzten vier Jahren klingelte einige Male das Telefon und mich erwartete ein Schock. Meine Mutter war sehr oft im Krankenhaus und einmal nach einer schweren Unterzuckerung sogar auf der Intensivstation. Dieses Erlebnis hat mich traumatisiert und seitdem habe ich eine schwierige Beziehung zu Telefonen. Besonders, wenn mein Stiefvater mich anruft, bleibt mein Herz stehen. Er ist nicht gerade ein Fan vom Telefonieren. Es besteht eine 50:50 Chance, dass er anruft, weil er mal wieder keine Geschenkidee für meine Mutter hat, oder eben, weil sie wieder im Krankenhaus ist. Die Angst und die Sorge um meine Mutter sind in den letzten Jahren immens gewachsen. Das stellt eine Belastung auf verschiedenen Ebenen dar.

Man hat etwas zu verlieren: einen geliebten Menschen!

Mir ist bewusst, dass ich mich eigentlich falsch verhalte und die Beziehung zu meiner Mutter strapaziere. Die Angst um sie und ihren Diabetes erzeugt einen permanenten Druck, von dem ich mich nur schwer distanzieren kann. Auch sorgt diese Situation dafür, dass sich unsere Rollen verkehren. Das klassische Mutter-Tochter-Gefüge hatten wir nie, sondern immer eine Begegnung auf Augenhöhe und oftmals einen freundschaftlichen Austausch. Nun aber bin ich zu der Person geworden, die sich sorgt, die Tipps gibt oder belehrt. Ich bin diejenige, die besorgt anruft. Das tut unserer Beziehung nicht gut, ich weiß mir aber selbst nicht anders zu helfen. Ich weiß, was psychologisch und verhaltenssoziologisch das Beste wäre. Wieder kann ich mich nicht daranhalten, weil ich ihr helfen will und mir so sehr wünsche, dass es ihr besser geht. Meine Rationalität wird gelähmt von den Gefühlen der Angst, Machtlosigkeit und der Verzweiflung. Eine Lösung kenne ich nicht. Ich würde mir aber von Typ 1ern wünschen, dass sie nachsichtig mit ihren Typ F’lern sind, wenn diese das ein oder andere über den Diabetes sagen. Denn dahinter steckt nur Sorge und Liebe.

Folgeerkrankungen – manchmal bekommt man mehr, manchmal weniger

Nicht alles kommt vom Diabetes. Wenn Bluthochdruck generell in der Familie liegt und man diesen als Typ 1er bekommt, dann ist es sehr wahrscheinlich eher die genetische Veranlagung und nicht der Diabetes. Ich habe mich über 10 Jahre durch Fehlbehandlung und durch eine Akzeptanzstörung nicht vernünftig um meinen Diabetes gekümmert. Ich habe bisher keinerlei Folgeerkrankungen. Bei meiner Mutter sah es nach 10 Jahren anders aus. Spekulationen zu den Gründen würden nichts bringen. Man kann Folgeerkrankungen nicht immer vermeiden. Man hat auch keine Schuld daran. Wenn es einen aber trifft, muss man das Ganze angehen und auch da das Beste daraus machen. Das Leben ist noch nicht vorbei, wenn Folgeerkrankungen auftreten.

Niemals aufgeben!

Ich habe gerade meine Mutter angerufen und sie gefragt, ob sie etwas dagegen hat, wenn ich diesen Beitrag veröffentliche. Dabei erwischte ich sie vor einer Leinwand sitzend. Trotz Retinopathie in beiden Augen geht sie weiterhin ihrer Leidenschaft nach und malt. Dadurch verarbeitet sie auch ihre eigenen Ängste und die fortschreitenden Probleme mit ihren Augen. Meine Mutter liebt kräftige Farben und kraftvolle, abstrakte Motive. Sie macht das Beste aus dieser Situation und malt so lange weiter, wie es eben geht.

Mehr von meiner Mutter und mir könnt ihr in einem Interview auf der Blood Sugar Lounge lesen.


2 responses

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  1. Sehr gut geschrieben, sehr berührend! Habe auch Typ 1 und befinde mich zur Zeit in einer ähnlichen Situation. Schön das man nicht alleine ist mit seinen Problemen. Liebe Grüße Annika

    1. Hallo Annika,
      Danke für Deinen Kommentar.
      Alleine bist Du auf keinen Fall, man erfährt das aber nur über den Austausch. Deshalb habe ich mich auch dazu entschlossen diese Zeilen zu veröffentlichen. Man muss über die Dinge reden!
      Viele Grüße,
      Kathy