Stigma: Leistungsgesellschaft.

Nicht Krankheiten sind Stigmata, sondern unsere Leistungsgesellschaft, die unrealistische Maßstäbe setzt. Die Schwäche verurteilt und es nicht als Stärke sieht, wenn man diese zugibt. Das ist mir in den letzten Wochen durch persönliche Erfahrungen und öffentliche Ereignisse wieder sehr bewusst geworden. Menschen gehen mit Grippe zur Arbeit, haben Angst ihren Job zu verlieren oder Kollegen zu verärgern. Es geht zu Lasten ihrer Gesundheit. Auch ich beobachte dieses Verhalten bei mir immer wieder. Zuletzt habe ich einen Schub meiner anderen Autoimmunkrankheit (chronische Urtikaria) auf die lange Bank geschoben. Da muss ich mich dringend besser reflektieren. Zusätzlich haben mich Ereignisse, die eine sehr starke Medienpräsenz hatten, sehr zum Nachdenken gebracht.

Privatsphäre vs. Öffentlichkeit

Bundeskanzlerin Angela Merkel zittert vor laufender Kamera bei drei öffentlichen Auftritten. Die Presse überschlägt sich: Was hat sie? Ist sie noch regierungsfähig? Sie muss die Bürgerinnen und Bürger informieren! – Kurz gesagt: einen Scheiß muss sie. In meinem Kopf gibt es eigentlich nur eine Reaktion auf das Zittern unserer Bundeskanzlerin: Gute Besserung! Alles andere geht mich oder uns nichts an. Ich werde mich auch keinen Spekulationen darüber anschließen. Das ist grenzüberschreitend und respektlos. Besonders beeindruckt hat mich jedoch, dass Angela Merkel nach dem dritten Zitteranfall sagte, dass sie mittlerweile Angst hat in der Öffentlichkeit zu zittern und diesbezüglich unter Druck steht. Für mich ein mutiges Statement – egal, was ich politisch von ihr halte. Aber auch darauf stürzte sich die Presse. Dass die Medien und Menschen so intensiv über etwas diskutieren, dass in die Privatsphäre unserer Bundeskanzlerin fällt, entlarvt für mich nur die problematische Haltung gegenüber Krankheit und Leistung.

Der Denkanstoß

Diese Vorfälle und die öffentliche Reaktion darauf haben mich in den letzten Tagen viel über unsere Leistungsgesellschaft nachdenken lassen. Das Thema schwirrt mir schon länger im Kopf herum, seitdem die ehemalige britische Premierministerin Theresa May selbstbewusst im roten, ärmellosen Kleid samt Freestyle Libre zu einem öffentlichen Event ging. Es ist selten, dass offen mit chronischen Erkrankungen umgegangen wird, wenn eine Person in der Öffentlichkeit agiert. Auch ich muss mich immer wieder der Frage stellen, ob ich meinen Typ 1 Diabetes im beruflichen Kontext erwähne oder nicht. Nicht umsonst begleitet der Slogan „Diabetes goes Business“ meinen Blog. Gerade als Frau muss ich beruflich schon mehr Leistung erbringen und viel kämpfen. Als Frau mit Diabetes wird dies nicht leichter.

Statistiken sagen, dass wir sehr viele sind

Es ist ein wenig absurd, dass man bei einem Zittern sofort nach der Regierungsfähigkeit einer Person fragt. Ist den Menschen nicht klar, dass auch eine Bundeskanzlerin krank werden kann? Dass das nichts mit ihrer generellen Leistungsfähigkeit zu tun hat? Und im zweiten Schritt, glauben die Menschen, dass alle Personen des öffentlichen Lebens gesund sind? Dieser Trugschluss ist tief in unserer Leistungsgesellschaft verankert. Nur wer gesund, stark und gutaussehend ist, kann auch Leistung erbringen und z.B. politische Ämter bekleiden, Unternehmen führen, wichtige Entscheidungen treffen. Das geht an der Realität vorbei, wenn man den Berichten des Robert Koch-Instituts folgt:

42% der Frauen und 35% der Männer berichten, an mindestens einer chronischen Krankheit zu leiden. Über alle Altersgruppen hinweg ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern signifikant.

Die Häufigkeit chronischer Erkrankungen nimmt mit dem Alter zu. Der Anteil chronisch Erkrankter liegt bei der jüngsten Altersgruppe unter einem Fünftel der Befragten. Bei den ab 65-Jährigen geben über die Hälfte der Männer und knapp 60% der Frauen an, eine chronische Krankheit zu haben.

(Quelle: Robert Koch-Institut,
Gesundheitsmentoring und Gesundheitsberichterstattung.
Allgemeiner Gesundheitszustand:
Chronisches Kranksein|Faktenblätter|
GEDA 2010, S. 67.)

Der klassische Politiker: über 50, Übergewicht und Lebemann

Über ein Drittel der deutschen Bevölkerung hat eine chronische Erkrankung. Mit dem Alter steigen diese Zahlen noch. Wie wahrscheinlich ist es dann, dass unsere Politikerinnen und Politiker alle vollkommen gesund sind? Es ist reine Spekulation, aber wenn ich mir den Klischee-Politiker vorstelle, dann hat dieser graue Haare, Übergewicht und nicht selten hat er ein Bier oder ungesundes Essen in der Nähe. Somit stelle ich mir doch einen Menschen vor, der viele Risikofaktoren für eine Insulinresistenz und der damit verbundenen Variante des Typ 2 Diabetes hat. Es ist praktisch unmöglich, dass nicht ein gewisser Anteil unserer Politikerinnen und Politiker tatsächlich diese Erkrankung hat. Und das betrifft alle Bereiche des öffentlichen und auch privaten Lebens. Gerade Diabetes macht nicht vor einer Haustür halt, nur weil dahinter ein berühmter Mensch wohnt. Die statistischen Unterschiede zwischen arm und reich, bildungsfern und akademisch gibt es zwar, aber gegen die genetischen Prädispositionen kommen diese Faktoren doch nur wenig an.

Typ 2 Diabetes weit verbreitet

Je nach Statistik geht man im Moment von rund 6 Millionen Menschen mit Diabetes in Deutschland aus. 90 % haben Typ 2 Diabetes. Diese Zahlen wachsen täglich. Menschen mit Diabetes sind ein großer Teil unserer Bevölkerung. Wir sind überall zu finden. Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Pfleger und Pflegerinnen, Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen, Ärzte und Ärztinnen, Manager und Managerinnen… Menschen mit Diabetes erbringen jeden Tag ihre Leistung, arbeiten und leben einfach ihr Leben. Genauso wie die meisten anderen Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen. Wir sind Teil dieser Gesellschaft! Tatsächlich wäre unsere Gesellschaft nicht funktionsfähig, wenn knapp 40% der Arbeitskräfte nicht leistungsfähig wären.

Im funktionierendem Zahnrad unserer Leistungsgesellschaft.
(Quelle: www.pixabay.com)

Krank, taff, leistungsstark

Das Beispiel unserer Bundeskanzlerin zeigt, wie wir mit Krankheit umgehen. Es ist beschämend und ein Stigma, dass sofort mit Schwäche gleichgesetzt wird. Zudem ist Schwäche auch nicht per se etwas Schlechtes. Egal ob chronisch oder etwas punktuell Akutes. Man redet nicht über Erkrankungen. Eine Grippe oder eine Erkältung sind das höchste der Gefühle, eine Magen-Darm-Grippe aber schon zu ekelig. Nicht selten brüsten Menschen sich damit – da kann ich mich nicht ausschließen – dass man so taff ist, dass man noch mit Fieber arbeiten geht. Wir versuchen dem Vorurteil der Schwäche so vorzubeugen und es sofort in eine Stärke umzuwandeln. Dafür erhält man Respekt, auch wenn es dumm und gefährlich ist. Da muss man doch einmal festhalten, dass das einzig kranke unser Verhältnis zu Krankheit und Leistung ist.

Ich muss… ich kann nicht… ich habe die Pflicht…

Ich habe seit einigen Monaten sehr mit meiner chronischen Urtikaria zu kämpfen. Ich habe zwei Runden Kortisontherapie überstehen müssen, was zu sehr schlechten Blutzuckerwerten und Problemen mit meinem Diabetes geführt hat. Es hat lange gedauert, bis ich mich mal habe krankschreiben lassen. Diese oder jene Verpflichtung hielt mich davon ab. Ich folge demselben Muster. Es ist mir sehr stark anerzogen. Das muss ich mir selbst eingestehen. Auch wenn ich Probleme mit dem Diabetes habe und mein Kopf schon absolut Matsche ist, gehe ich nicht nach Hause. Das ist besonders bescheuert, weil mein direkter Vorgesetzter dafür sogar Verständnis hätte. Er zitiert dann immer liebevoll seine Mutter, die wohl sagte: „Wenn man krank ist, ist man eben krank!“

Du bist ja gar nicht wirklich krank!

Gerade im wissenschaftlichen und universitären Umfeld, in dem ich arbeite, ist dieser weise Satz eine Rarität. Ein früherer Vorgesetzter von mir hatte mir mal unterstellt, dass ich ja gar nicht so krank sein könne, wie ich behaupte. Damals hatte ich eine so schwere Magen-Darm-Grippe, dass ich sogar drei Tage lang eine Elektrolyt-Glucose-Lösung bekommen habe, um meinen Blutzucker hochzukriegen und eine Ketoazidose zu vermeiden. Das ist ebenfalls ein oft erlebtes Problem in unserer Leistungsgesellschaft. Es gibt Menschen, die es für wahrscheinlicher halten, dass man vortäuscht, faul ist und schwänzen möchte, als dass der oder die andere wirklich krank ist. Am Arbeitsplatz lästern Menschen über Kolleginnen und Kollegen, die zu einem ungünstigen Zeitpunkt oder schon recht lange im Krankenstand sind. Ich denke, fast jeder Mensch mit Diabetes musste sich schon einmal mit solchen Vorwürfen auseinandersetzen. Das finde ich genauso erschreckend und problematisch wie die Stigmatisierung einer Erkrankung.

(Quelle: pexels.com)

Dürfen wir über unsere chronische Erkrankung reden?

Es ist also eine Tatsache, dass etwa jeder dritte bis vierte Mensch in Deutschland eine chronische Erkrankung hat und wir dennoch eine funktionierende Gesellschafft haben. Unsere Leistungsgesellschaft könnte nichts leisten ohne uns. Aber sichtbar ist das nicht. Mein letzter Punkt ist gleichzeitig eine Aufforderung: Let’s talk about it! Es ist schwer gegen ein Stigma oder gegen Vorurteile anzukommen. Ich rede mittlerweile sehr bewusst über meinen Typ 1 Diabetes. Ich gehe nicht damit hausieren und knalle es selten auf den Tisch. Aber in den entsprechenden Situationen nenne ich das Kind beim Namen. Ich glaube, dass nur durch das Brechen des Schweigens etwas geändert werden kann. Chronische Erkrankungen und auch alle anderen müssen sichtbar sein. Sie gehören zu uns Menschen dazu. Und diejenigen, die das Brett vorm Kopf haben, müssen sehen, dass wir überall sind, dass wir Leistung erbringen, dass wir die Gesellschaft mittragen. Wir müssen lange daran arbeiten, dass es endlich zu einer Stärke wird schwäche einzugestehen. Hier denke ich ebenso an viele psychische Erkrankungen, wie z.B. Depressionen und Burn-Outs. Es macht doch schon wirtschaftlich absolut Sinn: Wie viele Arbeitsstundenausfälle würden erspart bleiben, wenn es okay wäre, sich sofort krank zu melden, auszukurieren und nichts zu verschleppen?

Die Privatsphäre ist heilig!

Eine kleine, wichtige Ergänzung, die ebenso mitgedacht werden muss: Ja, ich gehe offen mit meinem Diabetes um, aber das gibt niemandem das Recht mich diesbezüglich auszufragen. Ich entscheide, wann ich welche Information gebe. Ich schütze genauso meine Privatsphäre in Sachen Diabetes, wie in anderen Bereichen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Entstigmatisierung der Leistungsgesellschaft und Privatsphäre. Ich habe da auch kein Patentrezept für. Es ist etwas durch und durch Individuelles. Aber genauso, wie wir drüber reden müssen, müssen wir es auch akzeptieren, dass andere es nicht wollen. Ohne das zu bewerten.

Quellen:

https://www.diabetesde.org/ueber_diabetes/was_ist_diabetes_/diabetes_in_zahlen

https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsGiD/2015/kurzfassung_gesundheit_in_deutschland.pdf?__blob=publicationFile

https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/Geda2010/chronisches_kranksein.pdf?__blob=publicationFile

P.S.: Dass ich Frau Dr. Angela Merkel in diesem Blog-Artikel in gewisser Weise in Schutz nehme, sagt nichts über meine politische Meinung aus. Es gibt lediglich meine menschliche Haltung zur Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens wieder.


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